Der ultimative Kontrollverlust
Fünf Tage sind seit dem schweren Erdbeben im Südosten der Türkei und Norden Syriens am frühen Morgen des 6. Februar 2023 vergangen. Fünf Tage – das sind 24, 48, 72, 96, 120 Stunden. In diesen Schritten zählen Katastrophenhelfer. 120 Stunden – die Chance, dass ein Mensch so lang unter Trümmern überlebt, noch dazu bei Temperaturen in der Nacht von minus vier Grad, sind verschwindend gering. Die Zahl der Überlebenden, die geborgen werden, sinkt von Tag zu Tag: Laut tagesschau.de waren es in den vergangenen 24 Stunden in der Türkei nur noch 67 Menschen. Die Zahl der Todesopfer ist mittlerweile auf mehr als 23.000 gestiegen – rund 20.200 Menschen in den türkischen Gebieten, mehr als 3000 Tote in Syrien.
Die Bilder aus der Region sind erschütternd. Um 04:17 Ortszeit am Montagmorgen bebt die Erde Nahe der Millionenstadt Gaziantep mit einer Stärke von 7,7, elf Minuten später wackelt es nochmal spürbar stark (6,7). Den ganzen Tag folgen Nachbeben, am Mittag eins fast so stark wie das am Morgen, Magnitude 7,5. Die Beben lassen ganze Hochhäuser einstürzen, reißen Straßen auf, Brücken stürzen ein. Die Szenen erinnern an Krieg: heftig bombardierte Gebiete in der Ukraine, Zerstörung und Schutt in Syrien. In Gaziantep leben mehr als zwei Millionen Menschen, das sind mehr als in Hamburg, Deutschlands zweitgrößter Stadt. Obwohl viele Deutsche die Namen noch nie gehört haben, hat das Beben Metropolen getroffen: Adana mit ebenfalls mehr als zwei Millionen Einwohnern, Diyarbakır mit mehr als 1,7 Millionen, Kahramanmaraş mit mehr als 600.000 (größer als Stuttgart oder Düsseldorf). In Syrien sind unter anderem Aleppo (2,1 Millionen), Homs und Idlib betroffen – alles Städte, die seit 2011 unter dem Bürgerkrieg leiden.
Das Beben hat die Menschen in der Nacht überrascht – das ist besonders fatal, weil die meisten zu der Uhrzeit zu Hause in ihren Betten schlafen. Das eigene Heim wird dann zur Falle. Das menschliche Leid ist unermesslich. Und das meine ich wirklich so. Solang man es selbst nicht erlebt hat, weiß man nicht, wie es sich anfühlt, wenn der Sohn mit seiner gesamten Familie – Frau, drei Kinder – im Wohnblock begraben wird. Wenn man als Tochter seine Eltern in so einem Beben verliert. Wenn Bruder oder Schwester von einstürzenden Mauern Brüche davontragen – mehr als 80.000 Verletzte melden die Einsatzkräfte bisher. Wenn man Glück gehabt hat, das Gebäude nur beschädigt ist, man es rausschafft, auf die Straße, im Nachthemd, barfuß, und vor den Trümmern seines Zuhause steht.
Ein Erdbeben ist der ultimative Kontrollverlust. Die Erde bebt, und man kann nichts, aber auch gar nichts machen, dass es aufhört. Wir in Deutschland haben das Glück, dass es bei uns keine Erdbeben gibt, zumindest keine wirklich spürbaren. Wir kennen es nicht, dass man sich auf so ein Ereignis kaum persönlich vorbereiten kann (außer vielleicht die Tasche mit wichtigen Dokumenten neben der Tür; wir hatten so eine Zuhause, im Schlafzimmer meiner Eltern, meine Mutter nannte sie „Gewittertasche“), nicht weiß, wann es zuschlägt. So etwas macht Angst.
„Planen“ bringt nur sehr bedingt etwas. Man kann mit sehr viel Geld Infrastruktur wie Gebäude erdbebensicher bauen. Die Türkei gehört zu den 20 stärksten Volkswirtschaften der Welt, aber Südostanatolien ist sozusagen das innere Entwicklungsland, hängt wirtschaftlich Jahrzehnte hinter den westlichen Regionen mit boomenden Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir zurück. Dort haben die Provinz- und Lokal-Regierungen und auch die Menschen teilweise noch andere Bedürfnisse, bevor sie ans erdbebensichere Bauen denken: erstmal überhaupt genügend Schulen und Krankenhäuser betreiben, Energieversorgung sichern, erstmal Jobs schaffen. Wenn Haushaltsmittel knapp sind – das betrifft sowohl die öffentliche wie auch die private Hand – muss priorisiert werden. Deswegen treffen Naturkatastrophen wie Beben, Überschwemmungen, Wirbelstürme arme Länder auch viel härter – sie sind vulnerabler, verletzlicher. Sie sind vor dem Schlag durch die Natur schon schwächer, und werden dann vergleichsweise heftiger getroffen, weil sie weniger Mittel haben, um den Folgen der Zerstörung schnell und effektiv zu begegnen.






Meine Familie und ich, wir haben die beiden schweren Erdbeben in Mexiko im September 2017 erlebt. Beim zweiten Beben vom 19. September – in sozialen Medien #19S – stürzten allein in Mexiko-Stadt mehr als 40 Gebäude ein, darunter eine Schule. Es starben landesweit 369 Menschen, mehr als 8000 wurden verletzt. Gott sei Dank ereignete sich das Beben mit einer Stärke von 7,1 zur Mittagszeit, 13:14, die meisten Menschen waren bei der Arbeit, in der Schule, auf der Straße. Unser Wohngebäude wurde beschädigt, nach mehreren Stunden wagten wir uns hinein, bis in den 3. Stock zu unserer Wohnung. Wir waren geschockt, was wir da sahen, wir griffen mechanisch zwei Koffer mit Kleidung, Zahnbürsten und Schulheften, und marschierten zu Fuß zur Wohnung meiner Schwiegermutter – der Verkehr war zum Erliegen gekommen, die Metro fuhr nicht. Wir hatten Glück im Unglück – wie sich nach einigen Wochen des Bangens rausstellte, war die Statik des Gebäudes in Ordnung, die Renovierung konnte beginnen. Wir mieteten eine andere Wohnung, zogen aus unserer Eigentumswohnung aus, wollten uns monatelangen Lärm, Staub und Dreck nicht antun.
Was uns geschah, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in Gaziantep oder Adana erlebt haben. Und trotzdem sitzt selbst bei mir – die keinen Menschen verloren, der kein Haar gekrümmt wurde – das Ereignis so tief, dass ich mir die Bilder vom Beben dieser Woche nicht ansehen kann, ohne dass sich meine Augen mit Tränen füllen.
Die Menschen in den betroffenen Gebieten haben unser Mitgefühl verdient, unsere Hilfe. Jetzt sofort. Morgen. In den kommenden Tagen und Wochen. Katastrophenhilfe. Sie haben unsere Unterstützung verdient. In den kommenden Monaten und Jahren. Finanzielle Unterstützung, technische, aber auch soziale und psychologische. Diese Erfahrung wird mit den Menschen bleiben, ihr Leben lang. Die meisten werden lernen, damit umzugehen. Bei einigen wird es Jahre dauern. Und andere wird es eventuell nach Jahrzehnten wieder einholen – wie nicht wenige alte Menschen, die den 2. Weltkrieg erlebt haben, im letzten Jahr durch Bilder von Russlands Angriff auf die Ukraine aufgewühlt wurden. Aber die meisten schaffen es. Der Mensch ist resistent, resilient. Aber es hilft, wenn er dabei nicht allein ist.