Der ultimative Kontrollverlust

Fünf Tage sind seit dem schweren Erdbeben im Südosten der Türkei und Norden Syriens am frühen Morgen des 6. Februar 2023 vergangen. Fünf Tage – das sind 24, 48, 72, 96, 120 Stunden. In diesen Schritten zählen Katastrophenhelfer. 120 Stunden – die Chance, dass ein Mensch so lang unter Trümmern überlebt, noch dazu bei Temperaturen in der Nacht von minus vier Grad, sind verschwindend gering. Die Zahl der Überlebenden, die geborgen werden, sinkt von Tag zu Tag: Laut tagesschau.de waren es in den vergangenen 24 Stunden in der Türkei nur noch 67 Menschen. Die Zahl der Todesopfer ist mittlerweile auf mehr als 23.000 gestiegen – rund 20.200 Menschen in den türkischen Gebieten, mehr als 3000 Tote in Syrien.

Die Bilder aus der Region sind erschütternd. Um 04:17 Ortszeit am Montagmorgen bebt die Erde Nahe der Millionenstadt Gaziantep mit einer Stärke von 7,7, elf Minuten später wackelt es nochmal spürbar stark (6,7). Den ganzen Tag folgen Nachbeben, am Mittag eins fast so stark wie das am Morgen, Magnitude 7,5. Die Beben lassen ganze Hochhäuser einstürzen, reißen Straßen auf, Brücken stürzen ein. Die Szenen erinnern an Krieg: heftig bombardierte Gebiete in der Ukraine, Zerstörung und Schutt in Syrien. In Gaziantep leben mehr als zwei Millionen Menschen, das sind mehr als in Hamburg, Deutschlands zweitgrößter Stadt. Obwohl viele Deutsche die Namen noch nie gehört haben, hat das Beben Metropolen getroffen: Adana mit ebenfalls mehr als zwei Millionen Einwohnern, Diyarbakır mit mehr als 1,7 Millionen, Kahramanmaraş mit mehr als 600.000 (größer als Stuttgart oder Düsseldorf). In Syrien sind unter anderem Aleppo (2,1 Millionen), Homs und Idlib betroffen – alles Städte, die seit 2011 unter dem Bürgerkrieg leiden.

Das Beben hat die Menschen in der Nacht überrascht – das ist besonders fatal, weil die meisten zu der Uhrzeit zu Hause in ihren Betten schlafen. Das eigene Heim wird dann zur Falle. Das menschliche Leid ist unermesslich. Und das meine ich wirklich so. Solang man es selbst nicht erlebt hat, weiß man nicht, wie es sich anfühlt, wenn der Sohn mit seiner gesamten Familie – Frau, drei Kinder – im Wohnblock begraben wird. Wenn man als Tochter seine Eltern in so einem Beben verliert. Wenn Bruder oder Schwester von einstürzenden Mauern Brüche davontragen – mehr als 80.000 Verletzte melden die Einsatzkräfte bisher. Wenn man Glück gehabt hat, das Gebäude nur beschädigt ist, man es rausschafft, auf die Straße, im Nachthemd, barfuß, und vor den Trümmern seines Zuhause steht.

Ein Erdbeben ist der ultimative Kontrollverlust. Die Erde bebt, und man kann nichts, aber auch gar nichts machen, dass es aufhört. Wir in Deutschland haben das Glück, dass es bei uns keine Erdbeben gibt, zumindest keine wirklich spürbaren. Wir kennen es nicht, dass man sich auf so ein Ereignis kaum persönlich vorbereiten kann (außer vielleicht die Tasche mit wichtigen Dokumenten neben der Tür; wir hatten so eine Zuhause, im Schlafzimmer meiner Eltern, meine Mutter nannte sie „Gewittertasche“), nicht weiß, wann es zuschlägt. So etwas macht Angst.

„Planen“ bringt nur sehr bedingt etwas. Man kann mit sehr viel Geld Infrastruktur wie Gebäude erdbebensicher bauen. Die Türkei gehört zu den 20 stärksten Volkswirtschaften der Welt, aber Südostanatolien ist sozusagen das innere Entwicklungsland, hängt wirtschaftlich Jahrzehnte hinter den westlichen Regionen mit boomenden Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir zurück. Dort haben die Provinz- und Lokal-Regierungen und auch die Menschen teilweise noch andere Bedürfnisse, bevor sie ans erdbebensichere Bauen denken: erstmal überhaupt genügend Schulen und Krankenhäuser betreiben, Energieversorgung sichern, erstmal Jobs schaffen. Wenn Haushaltsmittel knapp sind – das betrifft sowohl die öffentliche wie auch die private Hand – muss priorisiert werden. Deswegen treffen Naturkatastrophen wie Beben, Überschwemmungen, Wirbelstürme arme Länder auch viel härter – sie sind vulnerabler, verletzlicher. Sie sind vor dem Schlag durch die Natur schon schwächer, und werden dann vergleichsweise heftiger getroffen, weil sie weniger Mittel haben, um den Folgen der Zerstörung schnell und effektiv zu begegnen.

Meine Familie und ich, wir haben die beiden schweren Erdbeben in Mexiko im September 2017 erlebt. Beim zweiten Beben vom 19. September – in sozialen Medien #19S – stürzten allein in Mexiko-Stadt mehr als 40 Gebäude ein, darunter eine Schule. Es starben landesweit 369 Menschen, mehr als 8000 wurden verletzt. Gott sei Dank ereignete sich das Beben mit einer Stärke von 7,1 zur Mittagszeit, 13:14, die meisten Menschen waren bei der Arbeit, in der Schule, auf der Straße. Unser Wohngebäude wurde beschädigt, nach mehreren Stunden wagten wir uns hinein, bis in den 3. Stock zu unserer Wohnung. Wir waren geschockt, was wir da sahen, wir griffen mechanisch zwei Koffer mit Kleidung, Zahnbürsten und Schulheften, und marschierten zu Fuß zur Wohnung meiner Schwiegermutter – der Verkehr war zum Erliegen gekommen, die Metro fuhr nicht. Wir hatten Glück im Unglück – wie sich nach einigen Wochen des Bangens rausstellte, war die Statik des Gebäudes in Ordnung, die Renovierung konnte beginnen. Wir mieteten eine andere Wohnung, zogen aus unserer Eigentumswohnung aus, wollten uns monatelangen Lärm, Staub und Dreck nicht antun.

Was uns geschah, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in Gaziantep oder Adana erlebt haben. Und trotzdem sitzt selbst bei mir – die keinen Menschen verloren, der kein Haar gekrümmt wurde – das Ereignis so tief, dass ich mir die Bilder vom Beben dieser Woche nicht ansehen kann, ohne dass sich meine Augen mit Tränen füllen.

Die Menschen in den betroffenen Gebieten haben unser Mitgefühl verdient, unsere Hilfe. Jetzt sofort. Morgen. In den kommenden Tagen und Wochen. Katastrophenhilfe. Sie haben unsere Unterstützung verdient. In den kommenden Monaten und Jahren. Finanzielle Unterstützung, technische, aber auch soziale und psychologische. Diese Erfahrung wird mit den Menschen bleiben, ihr Leben lang. Die meisten werden lernen, damit umzugehen. Bei einigen wird es Jahre dauern. Und andere wird es eventuell nach Jahrzehnten wieder einholen – wie nicht wenige alte Menschen, die den 2. Weltkrieg erlebt haben, im letzten Jahr durch Bilder von Russlands Angriff auf die Ukraine aufgewühlt wurden. Aber die meisten schaffen es. Der Mensch ist resistent, resilient. Aber es hilft, wenn er dabei nicht allein ist.

Sleepless in Steglitz – Oder was Saša Stanišić mit meinen Schlafproblemen zu tun hat

Die vergangenen zehn Wochen waren ziemlich heftig. Zu heftig, als dass meine Psyche damit tagsüber klarkommen konnte, also arbeitete sie nachts weiter, auf Hochtouren.

Anfang Januar kamen wir von unserem Familienbesuch über Weihnachten und Neujahr zurück nach Hause. Wir hatten kurz vor Heiligabend alle vier einen Corona-Schnelltest gemacht, und als der negativ ausfiel, da fuhren wir tatsächlich los, um Oma und Opa zu sehen. Als wir in Berlin unsere Haustür aufschlossen, begrüßte uns der Anblick von Wassertropfen, die sich an der Decke unseres Arbeitszimmers sammelten, Wasser stand auf dem Boden. Wir wohnen in einer Doppelhaushälfte (DHH), ich sprinte die Treppe hoch, Wasser im Bad – auf dem Boden, es tropft ebenfalls von der Decke. Also noch ein Stockwerk höher, ins Dachgeschoss, wo die Heizungsanlage steht. Und ja, aus einem, wie ich später erfahre „Sicherungsventil“, tritt feiner Sprühregen aus. Erst jetzt merke ich, dass das Haus saukalt ist. Ich renne wieder runter, mein Mann und meine zwei Söhne stehen etwas verdattert im Eingang, wir suchen Feudel und Handtücher und machen uns an die Arbeit. Ich rufe den Wartungsdienst an, es ist 18:00 abends, logo geht keiner ran im Büro. Aber es gibt eine Notfallnummer, und es nimmt sogar der Senior-Chef ab. Sein Sohn würde versuchen, heute Abend noch vorbeizukommen.

Nach zwei Stunden Wischen unsererseits und fast zwei Stunden Rumschrauben seitens des Junior-Chefs sind die Böden oberflächlich wieder trocken, aber das Haus weiterhin ein Kühlschrank und nicht mal das Leck dicht, so dass wir die Hauptwassserleitung abgedreht lassen müssen. Wir füllen Eimer mit Wasser, um wenigstens notdürftig die Klos zu spülen und am kommenden Morgen Kaffee zu machen. Wir suchen unsere Skiklamotten raus, ziehen lange Unterwäsche an, nix wird aus dem Plan, eventuell relaxed einen Film auf Netflix zu sehen, sondern ab ins kalte Bett. Was für ein Nach-Hause-Kommen.

Mein Arbeitszimmer nach Aufwischaktion.

Ich merke, ich muss hier etwas schneller die Kurve kriegen.

Die Heizung wurde am kommenden Tag repariert, das Haus war dann nach einer Weile wieder warm. Mein Mann und ich niesten und schnupften seit dem Tag, ich dachte, so’n Mist, jetzt haben wir uns auch noch eine Erkältung geholt. Als dann auch noch Kopf- und Gliederschmerzen dazu kamen, entschieden wir uns, einen Corona-Test zu machen. Und der ist positiv bei meinem Mann und mir ausgefallen, unsere beiden Jungs im Alter von 19 und 16 Jahren kriegten jedoch ein negatives Ergebnis. Also: Nicht nur häusliche Quarantäne für uns, sondern auch noch innerhäusliche Isolation für meinen Mann und mich. Er im Schlaf-, ich im Arbeitszimmer, wo ich auf einer Matratze schlafe. Denn die Frau vom Gesundheitsamt Steglitz-Zehlendorf erklärte mir, dass er und ich nicht im selben Zimmer schlafen sollten, um die „Virenlast“ niedrig zu halten. Und natürlich sollen wir uns von den Kindern fernhalten, damit wir die nicht anstecken. Wir beide dürfen also für 10 Tage nach dem Auftreten der ersten Symptome nicht aus dem Haus, mit niemandem Kontakt haben, unsere Söhne für 14. Schule verpassen sie nicht, denn seit Anfang Januar heißt es in Berlin mal wieder „saLzH“ (schulisch angeleitetes Lernen zu Hause); also kein Präsenzunterricht, sondern remote.

Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf…up and coming! Mehr als man in F*ckhain-Kreuzberg und Mitte denkt.

Knapp zwei Wochen später – für den Tag, an dem auch für unsere Jungs endlich die Quarantäne vorbei ist – vereinbarten wir den Termin mit dem Sachverständigen der Wohngebäudeversicherung unseres Vermieters. Mehr als eine Stunde trabt eine deutsch-deutsche Delegation durch unser Haus: der „Schadensexperte“ aus Bezirk Treptow-Köpenick (ehemalig Ost-Berlin), der Hausbesitzer, Bezirk Tempelhof-Schöneberg (ehemalig West-Berlin), die Architektin des Hausbesitzers aus Hoppegarten (Brandenburg) – alles Bio-Deutsche. Und der Mitarbeiter der Wassersanierungsfirma aus Schönefeld (ebenfalls Brandenburg), mit türkischem Migrationshintergrund, von daher sehr wahrscheinlich kein ehemaliger Ossi. Ich als norddeutsche Wegweiserin durch unsere DHH, meine Jungs als deutsch-mexikanische Zaungäste verfolgen das erste und einzige Spektakel seit Beginn der Corona-Quarantäne in unseren vier Wänden. Ist fast besser als The Queen‘s Gambit.

Der Sachverständige kommt nach 70 Minuten zu folgendem Schluss: Es gibt ein best case- und ein worst case-Szenario.

Best case: Bei der vertieften Feuchtigkeitsmessung in der kommenden Woche geht alles klar, dann müssen nur ca. zwei Wochen Trockner in den betroffenen Räumen aufgestellt werden, danach „Wiederherstellung“, und bingo.

Worst case: Bei der Probenentnahme wird Schimmel festgestellt. Dann wären alle betroffenen Decken, Wände und Fußböden „abgängig“.

Ich so: „Abgängig? Können Sie das bitte auf Nicht-Sachverständisch sagen?“

Er. „Naja, dann muss det alles rausjerissen werden, jetrocknet, desinfiziert. Alles. Bad, Decken, alles.“

Boom. Tolle Nachricht am Freitag mittag.

Ich so: „Und von welcher Reparatur-Dauer sprechen wir dann da?“

Er: „Vier bis sechs Monate.“

Ich sah mich schon nach Wohnungen im Internet suchen, natürlich vergeblich. Und Umzugskartons packen. Ich bin mit meiner Mikro-Familie acht Mal umgezogen, davon fünf Mal über Landes- beziehunsgweise Kontinentgrenzen. Nach dem schweren Erdbeben vom 19. September 2017 verließen wir in Mexiko-Stadt unsere Wohnung, weil wir nicht fünf, sechs Monate auf einer Baustelle leben wollten. Ich dachte: „Scheiße, das ist mein zweites Erdbeben hier, dieser verdammte Wasserschaden.“

Ich merke, mir fällt das Kurvekriegen sichtlich schwer.

Nach vier Tagen waren wir dann erleichtert, als der Wassersanierungs-Experte uns sagte, dass sich kein Schimmel gebildet hatte; best case also.

Also, um zum Anfang zurückzukommen. Ich wachte also regelmäßig nachts auf, und konnte dann erstmal ein, zwei Stunden nicht mehr einschlafen. Nachdem ich sowas in der Härte das erste und einzige Mal in meinem Leben 2012 erlebt hatte, weiß ich, dass man dann ruhig bleiben soll. Wenn man bis zum ersten Mal wie ein Biber geschlafen hat, ist man erstmal geschockt. Aber: 80% der Deutschen schlafen schlecht, 9% leider unter schweren Schlafstörungen, so eine Studie der DAK; Frauen etwas mehr (10%) als Männer (8%). Ist also an sich eine Volkskrankheit. Entsprechend viele Tipps lassen sich in der Literatur finden. Ich weiß mittlerweile: Wenn die rasenden Gedanken, die wie wilde Pferde durch Dein Hirn galoppieren, sich nach 10, 15 Minuten immer noch nicht einfangen lassen, dann einfach Licht an, Buch lesen. Und nach einer halben Stunde wieder versuchen einzuschlafen.

Hab‘ ich gemacht. Und so „Herkunft“ von Saša Stanišić gelesen. Sein dritter Roman ist ein stark autobiographisches Werk, das beschreibt, wie er 1992 als 14jähriger aus Jugoslawien nach Deutschland kommt. Er erzählt viel über seine Jugendjahre im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund – wo in den 70er Jahren die Neue Heimat eine „Großwohnsiedlung“ für 7000 Menschen hochzog. Ich habe in Heidelberg studiert, war aber nie im Emmertsgrund, was total typisch ist, weil sich die Studierenden von außerhalb damals – wie sicher auch heute – für Schloss und Karlsbrücke, nicht aber für Hochhaussiedlungen a la Mümmelmannsberg oder Gropiusstadt interessierten. Stanišić erzählt von seiner Großmutter väterlicher Seite, die in Višegrad (Bosnien) zurückgeblieben ist und fast dreißig Jahre später an schwerer Demenz leidet. Bestimmte Dinge, die seine Oma getan oder nicht getan hat, ändert Stanišić in seinem Roman einfach ab. Ist ja kein Sachbuch, sondern fiction. Er macht das so elegant, so kreativ, so witzig, so einfühlsam, dass ich erstmal nicht wusste, was ich lesen sollte, als ich die 360 Seiten durch hatte.

Für seinen dritten Roman “Herkunft” erhielt Saša Stanišić unter anderem den Deutschen Buchpreis 2019.

In diesen schlaflosen Stunden in Steglitz dachte ich: „So wie Saša Stanišić muss es man es machen. Einfach ein bisschen „spin doctor“ spielen an der eigenen Familiengeschichte. Ein bisschen den insta-Filter drüberlegen. Das Drehbuch für die amazon prime-Serie nochmal leicht redigieren.“ Stanišić hat zu Recht den Deutschen Buchpreis 2019 für „Herkunft“ erhalten und ist zu Recht – zumindest finde ich das – einer der ganz, ganz Großen der deutschen Gegenwartsliteratur. Und vielleicht haben für diesen Erfolg – neben dem herausragenden Talent des jugoslawischen „Jungen mit Migrationshintergrund“ – ein Lehrer einer Gesamtschule in Rohrbach und eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde in Heidelberg eine sehr entscheidende Rolle gespielt. Stanišić ist nicht nur ein Ausnahme-Talent, sondern hat auch eine Ausnahme-Integration hingelegt (der Mann kann anscheinend seitenweise Eichendorff aufsagen, und ist damit an literarischer Bildung mindestens 95% der Bundesbürger*innen inklusive mir überlegen). Er ist ein Beispiel für „upward mobility“, für die Chancengleichheit in unserem Land – er steht für Kinder mit „nicht-deutscher Herkunftssprache“, gleiches wünsche ich mir zudem für die aus bildungsfernen Haushalten.

(geschrieben am 12. März 2021)

Einigkeit und Recht und Freiheit

Nach mehr als 16 Jahren im Ausland bin ich diesen Sommer zurück nach Deutschland gezogen. Es ist eine Rückkehr in meine Heimat, aber auch in ein Land, das sich teilweise sehr verändert hat. Wobei das nicht singular für Deutschland zutrifft – kein Land der Welt sieht heute mehr so aus wie im Jahr 2002. Anhaltende Industrialisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Finanz- und Staatsschuldenkrise, Demokratisierungsbewegungen wie der Arabische Frühling, in einigen Ländern verheerende Kriege – all das hat seine Spuren mehr oder weniger stark in den USA, Brasilien, Ägypten, Russland oder China hinterlassen.

In der Zeit im Ausland – in Mexiko, den Niederlanden, Österreich und zuletzt wieder Mexiko – habe ich immer Kontakt zu Deutschland gehalten. Ich habe einigermassen versucht, die Nachrichtenlage nicht aus den Augen zu verlieren, war regelmässig hier. Aber das war nur zu Besuch, meist im Sommer, geprägt vom Austausch mit der Familie, Treffen mit Freunden, ein bisschen Sightseeing, damit die Kinder wenigstens mal den Hamburger Hafen und die Speicherstadt gesehen haben.

Wir haben die vergangenen Jahre in einem Land gelebt, in dem 44 Prozent der Bevölkerung arm sind; mehr als 53 Millionen Menschen. Diese Personen haben in der Regel weniger als 3000 Pesos im Monat zur Verfügung, das sind nicht mal 150 Euro. Sie leiden häufig an Hunger, leben in Hütten aus Holzlatten und Wellplastik, in den Kliniken in ihren Gegenden fehlen Ärzte und Medikamente, ihre Kinder gehen, wenn überhaupt, auf schlechte Schulen. Die lokale Mittelschicht – die, typisch für ein Schwellenland, deutlich kleiner ist als in Industriestaaten – erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen deutlichen Verlust ihres Realeinkommens. Nur den Reichen geht es immer besser; 16 Mexikaner zählt Forbes allein auf seiner Milliardären-Liste. Das Land leidet unter organisierter Kriminalität und Gewalt (Mordrate von rund 20 (im Vergleich: Deutschland 1, Brasilien 30)). Die Straflosigkeit liegt bei über 90 Prozent. Mexikaner sehen in der Regel die Polizei nicht als “Dein Freund und Helfer”, das Vertrauen in den Staat ist in den letzten Jahren nochmal wieder weiter abgesackt.

Dies ist mein persönlicher Erfahrungshintergrund. Und deswegen kann ich es nicht glauben, was gerade in Deutschland passiert. Genauer gesagt, in der deutschen Politik. Die Spitzen der Grossen Koalition – die Bundeskanzlerin, ihr Innenminister und Chef der Schwesterpartei CSU sowie die Vorsitzende der SPD-Fraktion – entscheiden sich dagegen, einen Verfassungsschutzpräsidenten, der in seiner Arbeit schweres Fehlverhalten an den Tag gelegt hat, vernünftig zu entlassen. Sie brauchen die Entrüstung in der breiten Öffentlichkeit, um zu merken, dass ihre Position gegen jedweden gesunden Menschenverstand verstösst. Damit zeigen Merkel, Seehofer und Nahles, wie weit sie sich von der Lebensrealität ihrer Bürger entfernt haben; leider nicht das erste Mal in den vergangenen Monaten.

Dies passiert in einem Umfeld, in dem in Chemnitz offen fremdenfeindliche Parolen geschrien wurden und die Rechtspartei AfD, bereits drittstärkste Kraft im Bundestag, nach aktuellen Umfragen sogar die ehemalige Volkspartei SPD hinter sich lassen würde. Daneben müssen so komplizierte Probleme wie langfristig sichere Renten, die Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt und fehlende Lehrkräfte und Pflegepersonal gelöst werden. ABER – trotz allem, geht es Deutschland und den Deutschen so gut. Man muss gar nicht bis nach Mexiko gucken, um das zu verstehen. Und Mexiko liegt entwicklungsmässig noch deutlich vor Bolivien, Ägypten oder Indonesien.

Die Regierung ist in einer der schwersten Krisen der deutschen Demokratie der Nachkriegszeit und versteht nicht, dass sie die nur gemeinsam angehen kann. Sicher, die Lage ist schwierig, aber das ist sie meistens. Angela Merkel sollte so mutig sein, Horst Seehofer in die Schranken zu weisen. Die CSU sollte verstehen, was gerade auf dem Spiel steht. Andrea Nahles sollte dafür sorgen, dass das Führungsteam der GroKo nicht den Reality Check vergisst. Ein Jahr nach der Bundestagswahl und nur sechs Monate nach Antritt der Regierung muss nach vorn geguckt und Verantwortung übernommen werden. Denn Neuwahlen sind sicher keine Alternative.

3 Monate…

…ist es her, dass das brutalste Erdbeben seit mehr als 30 Jahren Mexiko-Stadt durchschüttelte: 228 Menschen starben. 38 Gebäude stürzten ein, mehr als 15.000 erlitten Schäden. Drei Wochen nach dem Beben machte ich ein Foto von einem der eingestürzten Appartment-Häuser in unserer Gegend – ich fand es damals unverständlich und leicht verstörend, dass die Trümmer immer noch nicht weggeräumt waren, dass die Ruine des Gebäudes da noch immer an dieser vielbefahrenen Strasse stand, mitten in einem extrem dicht besiedelten Wohngebiet.

Die Ruine an der Ecke Gabriel Mancera und Escocia steht auch heute noch dort, unverändert. Nur mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.

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Denn in den vergangenen Monaten war ich so häufig ungläubig der Dinge, die hier geschehen. Die Bundesregierung von Präsident Enrique Peña Nieto und der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Miguel Angel Mancera, preisen die Erfolge des Wiederaufbaus: Melden x Millionen Pesos, die an die Opfer als Unterstützung gegeben; y Essen, die in Notunterkünften bereitgestellt; z Schulen, die wiedereröffnet wurden. Von den mehr als 1000 Gebäuden, die schwere Schäden in der Statik haben, wurden gerade mal 329 vom Institut für Bausicherheit untersucht; 102 davon sollen abgerissen werden, aber bisher wurde das bei nur fünf erledigt. Und das, drei Monate nach dem 19. September 2017.

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Viele Opfer befinden sich immer noch im bürokratischen Limbo. Typisches Beispiel: Strasse Zapata 252, im Bezirk Benito Juárez, wo auch wir wohnen. Ein Wohnkomplex, gebaut 1983, also vor dem letzten schweren Beben 1985. Drei Türme, sechsstöckig, mit Apartments, insgesamt 116 Familien lebten vor dem Beben dort. Das Gebäude wurde so stark beschädigt, dass es direkt nach dem Beben zwangsevakuiert wurde. Die Bewohner mussten bei Familienmitgliedern, Freunden oder in einer der Not-Herbergen unterkommen; bis heute. Denn es folgten diverse Untersuchungen mit unterschiedlichen, häufig widersprüchlichen Ergebnissen: Abrissreif! Oder nein, doch nicht, es kann repariert werden. Aktuell werden tiefergehende Studien gemacht, die nicht günstig sind. Falls diese ergeben, dass man das Gebäude retten kann, kommen erst die tatsächlichen Reparaturkosten auf die Bewohner zu. Kaum einer war versichert; die Quote für Gebäudeversicherung gegen Erdbeben lag vor dem 19. September bei weniger als 5 Prozent.

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Ich bin nach dem Beben zu diversen Ämtern gegangen, hab’ unterschiedliche Hilfscenter besucht. Es wurde uns folgende Unterstützung angeboten: Mietzuschuss von 3000 Pesos (grob 150 Euro) für drei Monate; eventuelle Reparatur durch eine der “Brigaden” der Stadt, wobei total unklar war, wie und wo man die beantragt; und schliesslich ein Kredit von bis zu 2 Millionen Pesos (100.000 Euro) zu einem Zinssatz von 9 Prozent, über 20 Jahre, bei dem nur der Zins gezahlt werden muss, die Tilgung wird einem erlassen. Das heisst aber, dass die Person über die 20 Jahre insgesamt 3,6 Millionen Pesos zurückzahlt. Vielen geht es so wie den Bewohnern des Apartmenthauses in der Strasse San Francisco 608, die ihren Ärger öffentlich gemacht haben: Bisher hilft uns keiner!

Unser Bezirksbürgermeister, Christian von Roehrich, hat vorgeschlagen, auf den Grundstücken der Gebäude, die eingestürzt sind oder abgerissen werden müssen, vom Privatsektor Neubauten hinsetzen zu lassen, die aber 35 Prozent mehr Wohnraum schaffen, als das Haus, das dort vorher stand. Die Wohnungen sollen dann, angeblich kostenfrei, an die Opfer gehen; das Bauunternehmen finanziert sich mit dem zusätzlichen Wohnraum, den es verkaufen kann. Der Plan kam nicht ganz so gut an, weil in unserem Bezirk soundso schon so viel gebaut wird, dass die Infrastruktur Probleme hat, Schritt zu halten (Verkehr, Wasser- und Abwasserversorgung, Grünflächen, etc.). Fakt ist, dass die Menschen in bestimmten Bezirken in Mexiko-Stadt einfach relativ gesehen zu wohlhabend sind, als dass ihnen die Regierung helfen wird, denn es gibt Zehntausende, die viel, viel schlechter dran sind, an die die Mittel erstmal gehen.

Heute hat Bürgermeister Mancera im Norden der Stadt 680 Personen ein neues Zuhause überreicht. Diese Menschen lebten noch immer in einem Camp, Opfer des Erdbebens von 1985. Über Twitter schickte MAM, Spitzname Manceras, Bilder in die Welt, auf denen er freudestrahlende Menschen drückt und Hände schüttelt. “Die Stadtregierung arbeitet daran, dass Menschen nicht in provisorischen Unterkünften leben müssen.”, textete er dazu. Man fragt sich, ob MAM sich der Ironie seiner Worte bewusst ist. Ein solcher Satz, nachdem diese Menschen 32 Jahre kein richtiges Zuhause hatten? Warum um alles in der Welt hat das so lange gedauert?

3 Wochen, 3 Monate, 32 Jahre. Zeit wird in Mexiko anders gemessen, zumindest, wenn Bürokratie mit ins Spiel kommt. Der grosse Wiederaufbau-Plan, der diesen Monat erlassen werden sollte, kommt jetzt wohl erst im Januar – die Weihnachtsferien sind leider dazwischen gekommen. Ich wünsche allen Opfern des Bebens vom 19-S, dass ihre Nöte von den Verantwortlichen ernst genommen werden! Das wäre das beste Weihnachtsgeschenk für diese verletzte Stadt.

Nötig: Unterstützung, die wirklich hilft

Heute Morgen besuchte ich das Help Center, das die Stadtregierung Mexikos für Personen eingerichtet hat, die vom Erdbeben vom 19. September betroffen sind. Eine Woche nach dem Beben hatte der Bürgermeister einen Wiederaufbau-Plan verkündet, der Hilfe für die Opfer versprach – gestaffelt nach der Schwere der Schäden an Haus oder Wohnung: Als grün wurden die Gebäude eingestuft, bei denen der Putz von den Wänden gefallen war oder Scheiben zerbrachen; gelb sind die mit heftigeren Schäden, in denen man jedoch noch wohnen kann; und das Zertifikat rot bekamen die, deren Statik so gelitten hat, dass sie nicht mehr bewohnbar sind. Zu letzteren gehören die rund 40 Gebäude, die beim Beben eingestürzt sind, sowie die eventuell bis zu 200, die abgerissen werden müssen. Aber auch grob 1000, deren “strukturelle Schäden” aufwendig und kostenintensiv repariert werden müssen.

Gerade die Personen, deren Eigentum als rot klassifiziert wurden, gerade für die sollte dieses Help-Center sein. In einem Zelt vor dem Finanzministerium von Mexiko-Stadt erklärt also der freundliche Herr in weissem Hemd und Steppweste, was die “Regierung” für die rund 20 Anwesenden tun kann. Er redet vom “Wohnprogramm für die Betroffenen des Erdbebens” und hält zwei Flyer in der Hand. Bei dem ersten Programm handelt es sich um eine Hypothek: Bis zu 2 Millionen Pesos, umgerechnet rund 100.000 Euro, gibt es, bei einem Jahreszins von 9%, über 20 Jahre, um sich eine neues Heim zu kaufen. Das Besondere: Die 2 Millionen müssen nicht getilgt werden, nur die Zinsen bezahlt. Beim zweiten Programm handelt es sich auch um eine Hypothek: Diesmal für die Reparatur der strukturellen Schäden von Wohngebäuden; hier kann die Eigentümerversammlung als Schuldner auftreten. Hierfür stünden bis zu 20 Millionen Pesos zur Verfügung, Konditionen wie beim ersten Programm.

2 Millionen Pesos, 9% Zinsen, über 20 Jahre – das sind 15.000 Pesos pro Monat, umgerechnet 750 Euro. Die Menge schüttelt den Kopf, darunter mehrere Nachbarn, deren Gebäude einsturzgefährdet ist, die nach dem Beben gerade noch einmal in ihre Wohnung durften, um wichtige Dokumente rauszuholen. Das sind Summen, die ausserhalb ihrer Möglichkeiten liegen. Der Herr vom Help-Center liest trotzdem die Voraussetzungen für die Hypothek vor: Einkommensnachweis. Und da kann er schon aufhören mit seiner Liste, denn die Frau neben mir hebt ihre Hand und sagt: “Ich habe kein Einkommen.” Viele Mexikaner arbeiten im informellen Sektor – sie zahlen keine Steuern, keine Sozialversicherung, eine Welt ohne Einkommensnachweise und Rente im Lebensabend. Der 85jährige Herr zu meiner Linken nickt. “Sie können auch die Einkommensnachweise ihrer Kinder oder Enkel einreichen”, schlägt der Beamte etwas verlegen vor.

Die Frau neben mir wird unruhig: “Mein Haus ist eingestürzt. Ich habe kein Einkommen. Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, dass Sie mir helfen. Ist das Ihre Hilfe?” Der Mann kommt etwas ins Schwimmen: Er spricht jetzt über Zuständigkeiten, hier biete die Stadt eben nur diese beiden Programme an, er könne nicht für eventuelle Angebote anderer Ministerien oder Institutionen sprechen. Die Frau ist enttäuscht; genau wie ich dachte sie, dass es sich um einen “one-stop-shop” für Betroffene handelt. Und dass man eben nicht diverse Ämter abklappern muss, in dieser Riesenstadt hin- und herfahren, lange Wartezeiten in Kauf nehmen, noch mehr Anstrengung in einer Situation, die soundso schon belastend genug ist. Aber so ist es nicht.

Beim Nachfragen entpuppt sich das Help Center denn auch als Einrichtung der Bundeshypothekengesellschaft (SHF), in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium (SHCP) – leider schwirrt viel Falsch- oder Teil-Information durch die Medien. Aber ein Finanzinstrument ist nicht das, was viele Menschen hier brauchen: Tausende haben ihr Heim verloren, müssen jetzt Miete zahlen, die sie sich nicht leisten können, weil sie schon vorher mit ihren Einkünften nur knapp bis zum Ende des Monats kamen. Für diese Menschen wurde bisher zu wenig angeboten. Da helfen auch nicht die 3000 Pesos (150 Euro) Mietzuschuss, die die Stadtregierung für bis zu drei Monate zahlen will. Diese – übrigens – muss man bei einem anderen Amt beantragen.

In tiefer Trauer

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Strassenkreuzung Gabriel Mancera mit Escocia, in der Colonia Del Valle, Mexiko-Stadt. Drei Wochen ist es her, dass dieses Mehrfamilienhaus in sich zusammenfiel. Mehr als zehn Menschen kostete es das Leben. Die Trümmer und Kränze erinnern daran. Das Foto ist von gestern.

Einen Block weiter steht die Schule meiner Kinder, Gott sei Dank ohne Schäden. Im selben Strassenblock leben drei meiner Freundinnen, auch sie, Gott sei Dank, gesund, ihre Häuser und Wohnungen heil. Hier traf das Beben ins Herz der oberen Mittelklasse dieser Stadt. Viele von uns werden lange brauchen, um mit den Folgen des 19. Septembers umzugehen und einigermassen wieder zur Normalität zurückzufinden.

19. September 2017

Vor zwei Wochen bebte die Erde in Mexiko. Sie bebte so heftig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Brutal, regelrecht gewalttätig war die Erde gegenüber Menschen, Gebäuden, allem, was ihr in die Quere kam. Mehr als 350 Menschen starben, davon allein rund 220 in der Hauptstadt. Die Richterskala zeigte 7,1 an, aber die Wucht, mit der das Beben Mexiko-Stadt erreichte, war stärker als beim letzten schweren Beben, 1985, weil das Epizentrum so viel näherlag; keine 400, sondern 120 Kilometer entfernt. 38 Gebäude stürzten in sich zusammen, mehr als 3000 sind beschädigt, eine ganze Reihe so stark, dass sie abgerissen werden müssen.

Das Datum 19. September wird für immer im Gedächtnis der Mexikaner bleiben: Denn bisher erinnerte man sich an dem Tag an das Beben von 1985, bei dem die Hauptstadt in bestimmten Stadtteile total verwüstet wurde: Rund 13.000 Menschen starben damals. Es war die schlimmste Katastrophe der jüngeren Geschichte Mexikos. Und genau an dem Tag, 32 Jahre später, erhebt sich die Erde erneut. Noch um 11 Uhr an dem Morgen hatten Zehntausende in der Hauptstadt den Ernstfall geprobt. Um 13:14 dann, zwei Stunden später, trat dieser ein.

Die Stadt ist immer noch überzogen von Schock, von Trauer, von Angst; zumindest in den betroffenen Zonen. Das moderne Mexiko-Stadt fand seinen Ursprung auf einem von den spanischen Eroberern trockengelegten See; mittlerweile ist die Megalopolis weit darüber hinausgewachsen. Aber wo früher See war, ist der Untergrund auch 500 Jahre später immer noch deutlich weicher als an anderen Orten – und verstärkt die Schwingungen bei Erdbeben teilweise bis zu 50fach. Im Westen und Südwesten der Stadt konnte man am Wochenende nach dem Beben denken, dass nichts passiert war: Menschen in Shopping-Malls, in Restaurants, im Supermarkt. Aber in der Condesa, Roma, Del Valle, Narvarte, Xochimilco – also Gegenden, die stark betroffen sind – waren Strassen gesperrt, halfen Soldaten und Tausende Freiwillige, unter Trümmern Überlebende zu finden, transportierten Menschenketten Schutt in Plastikeimern. Es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft, die mindestens so besonders war wie das Beben.

Zwei Wochen nach dem Beben, sind auch wir noch in Schock, in Trauer, und in Angst. Unsere Wohnung und unser Gebäude haben nicht geringen Schaden genommen: Es lässt sich angeblich alles reparieren, aber die Bauarbeiten werden Monate dauern. Wir gehören also zu den Tausenden, die ihr Heim temporär verloren haben. Meine Söhne sitzen zu Hause (meine Schwiegermutter beherbergt uns gerade), weil ihre Schule immer noch nicht die Erlaubnis des Bildungsministeriums hat, um mit dem Unterricht zu beginnen. Das Schulgebäude ist in Ordnung, aber die Gegend um die Schule hat einfach enorm gelitten. Auch wir befinden uns noch im Ausnahmezustand, wie die Stadt, die unser Zuhause ist. Uns überkommt Traurigkeit, immer mal wieder, auch, wenn wir wissen, dass wir Glück im Unglück gehabt haben. Aber so nah ist das Unglück noch nie an uns herangekommen.

Eine einzige Chance

Ich muss diesen Post einfach auf Deutsch schreiben. Gestern Mittag saß ich mit meinen beiden Jungs vorm Fernseher und habe das Spiel Brasilien gegen Mexiko angeguckt – logisch, meine beiden Söhne sind Mexikaner. Das Spiel war spannend, fesselnd, die Mexikaner nicht nur unserer Meinung nach mindestens gleichauf mit den Brasilianern für das Gros der Spielzeit. Zu WM-Zeiten wird schließlich jeder mehr oder weniger zum Experten. Okay, im Angriff hätte “el Tri” etwas mehr Druck machen können, dafür war die Verteidigung mehr als solide und dann natürlich – der Torwart. Unglaublich! Sechs Mal versuchten die Brasilianer, den Ball im mexikanischen Netz zu versenken, und jedes Mal hielt Guillermo Ochoa.

In der 26. Minute, als Neymar aufs mexikanische Tor köpfte, griff ich erstmals zum Panini-Album meiner Söhne, um zu schauen, wer denn dieser Ochoa eigentlich ist. Nicht drin. Dafür klebte da ein Bild von Jesús Corona. Mein Ältester erklärte mir, dass “Memo” (mexikanischer Kurzname für Guillermo) zum Nummer-1-Torwart der Mexikaner avancierte, nachdem Corona sich beim Vorbereitungsspiel gegen Iran verletzt hatte.

Ein paar Stunden nach Spielende gehe ich auf Spiegel Online und finde dort unter der Überschrift “Mexikos WM-Held Ochoa” einen Lobgesang auf den 28-jährigen Keeper. Der Einstieg ist genial: “Manchmal genügt eine einzige Partie, um sich unsterblich zu machen. Für Guillermo Ochoa war das Duell zwischen Mexiko und Brasilien so ein Spiel.” Die Zeile “Die Backsteinmauer aus Guadalajara” kommt dafür etwas sperrig daher, auch wenn sie sich auf ein Bild von Ochoa auf Twitter bezieht, das kurz nach dem Spiel dort gepostet wurde: Der Torwart als Wand aus Ziegelsteinen, an der nicht mal ein von einem Panzer abgefeuerter Ball vorbeikommt.

Mein Mann kommt nach Hause und ich sage zu ihm belustigt: “Guck’ mal, sogar die Deutschen schreiben über Ochoa.” Er schaut mich etwas erstaunt an und meint. “Naja, die Bälle waren ja nun auch wirklich unhaltbar.” Wie gesagt – zu WM-Zeiten wird schließlich jeder mehr oder weniger zum Experten; ich ganz offensichtlich weniger.

Trotzdem weiß auch ich mittlerweile, dass Ochoa beim Spiel am Dienstag laut Oliver Kahns O-Ton im ZDF “die beste Torwartleistung bisher bei dieser WM” hingelegt hat und damit von der deutschen Torwartikone “geadelt” wurde (Focus Online). Dass sein Halten von Neymars Kopfball in der 26. Minute von brasilianischen Kommentatoren sogar mit der “Jahrhundertparade” des Engländers Gordon Banks gegen Pelé bei der WM 1970 verglichen wurde (FAZ). Dass Ochoa das “Spiel seines Lebens” präsentiert hat (Kicker).

Für mich als Hobby-Fussballerin viel interessanter ist, dass der Nord-Mexikaner, der sein Profi-Debut mit 17 Jahren beim größten mexikanischen Club América hatte, schon zu zwei WMs mitgefahren ist, aber immer nur auf der Bank saß. Dass er 2007 bereits in Mexiko Superstar-Status erreichte, nachdem er in der Copa América mit der Nationalmannschaft 2-0 gegen Brasilien gewann. Und dass er eigentlich vor drei Jahren von América zu Paris Saint-Germain wechseln sollte, das aber platzte, nachdem der damals 25-jährige (und vier weitere mexikanische Spieler) bei einer Dopinguntersuchung positiv getestet wurden. Zwar stellte sich zwei Monate später heraus, dass die erhöhten Werte vom Verzehr von Fleisch herrührten – doch da hatte Paris Saint-German sich bereits anders entschieden. Ochoa wechselte zum gerade in die französische Ligue 1 aufgestiegenen Verein Ajaccio auf Korsika.

Und mit Ajaccio stieg er jüngst wieder ab – nach einer verheerenden Saison, gerade mal vier Siege, insgesamt 72 Gegentore in 38 Spielen. Ochoa hatte 2011 einen Dreijahresvertrag unterzeichnet, und die Option auf ein Verlängerungsjahr, jetzt allerdings in der 2. Liga, wollte der Mexikaner nicht wahrnehmen. Nach Brasilien fuhr er also als “free agent”, man kann auch sagen ohne aktuellen Arbeitgeber, doch sicher wird sich da schnell ein neuer und deutlich besserer finden nach dem Spiel vom Dienstag. Und das ist für mich der tollste Dreh an dem ganzen Ochoa-Hype: Manchmal genügt eine einzige Chance, um zu zeigen, was in einem steckt!