Einigkeit und Recht und Freiheit
Nach mehr als 16 Jahren im Ausland bin ich diesen Sommer zurück nach Deutschland gezogen. Es ist eine Rückkehr in meine Heimat, aber auch in ein Land, das sich teilweise sehr verändert hat. Wobei das nicht singular für Deutschland zutrifft – kein Land der Welt sieht heute mehr so aus wie im Jahr 2002. Anhaltende Industrialisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Finanz- und Staatsschuldenkrise, Demokratisierungsbewegungen wie der Arabische Frühling, in einigen Ländern verheerende Kriege – all das hat seine Spuren mehr oder weniger stark in den USA, Brasilien, Ägypten, Russland oder China hinterlassen.
In der Zeit im Ausland – in Mexiko, den Niederlanden, Österreich und zuletzt wieder Mexiko – habe ich immer Kontakt zu Deutschland gehalten. Ich habe einigermassen versucht, die Nachrichtenlage nicht aus den Augen zu verlieren, war regelmässig hier. Aber das war nur zu Besuch, meist im Sommer, geprägt vom Austausch mit der Familie, Treffen mit Freunden, ein bisschen Sightseeing, damit die Kinder wenigstens mal den Hamburger Hafen und die Speicherstadt gesehen haben.
Wir haben die vergangenen Jahre in einem Land gelebt, in dem 44 Prozent der Bevölkerung arm sind; mehr als 53 Millionen Menschen. Diese Personen haben in der Regel weniger als 3000 Pesos im Monat zur Verfügung, das sind nicht mal 150 Euro. Sie leiden häufig an Hunger, leben in Hütten aus Holzlatten und Wellplastik, in den Kliniken in ihren Gegenden fehlen Ärzte und Medikamente, ihre Kinder gehen, wenn überhaupt, auf schlechte Schulen. Die lokale Mittelschicht – die, typisch für ein Schwellenland, deutlich kleiner ist als in Industriestaaten – erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen deutlichen Verlust ihres Realeinkommens. Nur den Reichen geht es immer besser; 16 Mexikaner zählt Forbes allein auf seiner Milliardären-Liste. Das Land leidet unter organisierter Kriminalität und Gewalt (Mordrate von rund 20 (im Vergleich: Deutschland 1, Brasilien 30)). Die Straflosigkeit liegt bei über 90 Prozent. Mexikaner sehen in der Regel die Polizei nicht als “Dein Freund und Helfer”, das Vertrauen in den Staat ist in den letzten Jahren nochmal wieder weiter abgesackt.
Dies ist mein persönlicher Erfahrungshintergrund. Und deswegen kann ich es nicht glauben, was gerade in Deutschland passiert. Genauer gesagt, in der deutschen Politik. Die Spitzen der Grossen Koalition – die Bundeskanzlerin, ihr Innenminister und Chef der Schwesterpartei CSU sowie die Vorsitzende der SPD-Fraktion – entscheiden sich dagegen, einen Verfassungsschutzpräsidenten, der in seiner Arbeit schweres Fehlverhalten an den Tag gelegt hat, vernünftig zu entlassen. Sie brauchen die Entrüstung in der breiten Öffentlichkeit, um zu merken, dass ihre Position gegen jedweden gesunden Menschenverstand verstösst. Damit zeigen Merkel, Seehofer und Nahles, wie weit sie sich von der Lebensrealität ihrer Bürger entfernt haben; leider nicht das erste Mal in den vergangenen Monaten.
Dies passiert in einem Umfeld, in dem in Chemnitz offen fremdenfeindliche Parolen geschrien wurden und die Rechtspartei AfD, bereits drittstärkste Kraft im Bundestag, nach aktuellen Umfragen sogar die ehemalige Volkspartei SPD hinter sich lassen würde. Daneben müssen so komplizierte Probleme wie langfristig sichere Renten, die Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt und fehlende Lehrkräfte und Pflegepersonal gelöst werden. ABER – trotz allem, geht es Deutschland und den Deutschen so gut. Man muss gar nicht bis nach Mexiko gucken, um das zu verstehen. Und Mexiko liegt entwicklungsmässig noch deutlich vor Bolivien, Ägypten oder Indonesien.
Die Regierung ist in einer der schwersten Krisen der deutschen Demokratie der Nachkriegszeit und versteht nicht, dass sie die nur gemeinsam angehen kann. Sicher, die Lage ist schwierig, aber das ist sie meistens. Angela Merkel sollte so mutig sein, Horst Seehofer in die Schranken zu weisen. Die CSU sollte verstehen, was gerade auf dem Spiel steht. Andrea Nahles sollte dafür sorgen, dass das Führungsteam der GroKo nicht den Reality Check vergisst. Ein Jahr nach der Bundestagswahl und nur sechs Monate nach Antritt der Regierung muss nach vorn geguckt und Verantwortung übernommen werden. Denn Neuwahlen sind sicher keine Alternative.