Sleepless in Steglitz – Oder was Saša Stanišić mit meinen Schlafproblemen zu tun hat

Die vergangenen zehn Wochen waren ziemlich heftig. Zu heftig, als dass meine Psyche damit tagsüber klarkommen konnte, also arbeitete sie nachts weiter, auf Hochtouren.

Anfang Januar kamen wir von unserem Familienbesuch über Weihnachten und Neujahr zurück nach Hause. Wir hatten kurz vor Heiligabend alle vier einen Corona-Schnelltest gemacht, und als der negativ ausfiel, da fuhren wir tatsächlich los, um Oma und Opa zu sehen. Als wir in Berlin unsere Haustür aufschlossen, begrüßte uns der Anblick von Wassertropfen, die sich an der Decke unseres Arbeitszimmers sammelten, Wasser stand auf dem Boden. Wir wohnen in einer Doppelhaushälfte (DHH), ich sprinte die Treppe hoch, Wasser im Bad – auf dem Boden, es tropft ebenfalls von der Decke. Also noch ein Stockwerk höher, ins Dachgeschoss, wo die Heizungsanlage steht. Und ja, aus einem, wie ich später erfahre „Sicherungsventil“, tritt feiner Sprühregen aus. Erst jetzt merke ich, dass das Haus saukalt ist. Ich renne wieder runter, mein Mann und meine zwei Söhne stehen etwas verdattert im Eingang, wir suchen Feudel und Handtücher und machen uns an die Arbeit. Ich rufe den Wartungsdienst an, es ist 18:00 abends, logo geht keiner ran im Büro. Aber es gibt eine Notfallnummer, und es nimmt sogar der Senior-Chef ab. Sein Sohn würde versuchen, heute Abend noch vorbeizukommen.

Nach zwei Stunden Wischen unsererseits und fast zwei Stunden Rumschrauben seitens des Junior-Chefs sind die Böden oberflächlich wieder trocken, aber das Haus weiterhin ein Kühlschrank und nicht mal das Leck dicht, so dass wir die Hauptwassserleitung abgedreht lassen müssen. Wir füllen Eimer mit Wasser, um wenigstens notdürftig die Klos zu spülen und am kommenden Morgen Kaffee zu machen. Wir suchen unsere Skiklamotten raus, ziehen lange Unterwäsche an, nix wird aus dem Plan, eventuell relaxed einen Film auf Netflix zu sehen, sondern ab ins kalte Bett. Was für ein Nach-Hause-Kommen.

Mein Arbeitszimmer nach Aufwischaktion.

Ich merke, ich muss hier etwas schneller die Kurve kriegen.

Die Heizung wurde am kommenden Tag repariert, das Haus war dann nach einer Weile wieder warm. Mein Mann und ich niesten und schnupften seit dem Tag, ich dachte, so’n Mist, jetzt haben wir uns auch noch eine Erkältung geholt. Als dann auch noch Kopf- und Gliederschmerzen dazu kamen, entschieden wir uns, einen Corona-Test zu machen. Und der ist positiv bei meinem Mann und mir ausgefallen, unsere beiden Jungs im Alter von 19 und 16 Jahren kriegten jedoch ein negatives Ergebnis. Also: Nicht nur häusliche Quarantäne für uns, sondern auch noch innerhäusliche Isolation für meinen Mann und mich. Er im Schlaf-, ich im Arbeitszimmer, wo ich auf einer Matratze schlafe. Denn die Frau vom Gesundheitsamt Steglitz-Zehlendorf erklärte mir, dass er und ich nicht im selben Zimmer schlafen sollten, um die „Virenlast“ niedrig zu halten. Und natürlich sollen wir uns von den Kindern fernhalten, damit wir die nicht anstecken. Wir beide dürfen also für 10 Tage nach dem Auftreten der ersten Symptome nicht aus dem Haus, mit niemandem Kontakt haben, unsere Söhne für 14. Schule verpassen sie nicht, denn seit Anfang Januar heißt es in Berlin mal wieder „saLzH“ (schulisch angeleitetes Lernen zu Hause); also kein Präsenzunterricht, sondern remote.

Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf…up and coming! Mehr als man in F*ckhain-Kreuzberg und Mitte denkt.

Knapp zwei Wochen später – für den Tag, an dem auch für unsere Jungs endlich die Quarantäne vorbei ist – vereinbarten wir den Termin mit dem Sachverständigen der Wohngebäudeversicherung unseres Vermieters. Mehr als eine Stunde trabt eine deutsch-deutsche Delegation durch unser Haus: der „Schadensexperte“ aus Bezirk Treptow-Köpenick (ehemalig Ost-Berlin), der Hausbesitzer, Bezirk Tempelhof-Schöneberg (ehemalig West-Berlin), die Architektin des Hausbesitzers aus Hoppegarten (Brandenburg) – alles Bio-Deutsche. Und der Mitarbeiter der Wassersanierungsfirma aus Schönefeld (ebenfalls Brandenburg), mit türkischem Migrationshintergrund, von daher sehr wahrscheinlich kein ehemaliger Ossi. Ich als norddeutsche Wegweiserin durch unsere DHH, meine Jungs als deutsch-mexikanische Zaungäste verfolgen das erste und einzige Spektakel seit Beginn der Corona-Quarantäne in unseren vier Wänden. Ist fast besser als The Queen‘s Gambit.

Der Sachverständige kommt nach 70 Minuten zu folgendem Schluss: Es gibt ein best case- und ein worst case-Szenario.

Best case: Bei der vertieften Feuchtigkeitsmessung in der kommenden Woche geht alles klar, dann müssen nur ca. zwei Wochen Trockner in den betroffenen Räumen aufgestellt werden, danach „Wiederherstellung“, und bingo.

Worst case: Bei der Probenentnahme wird Schimmel festgestellt. Dann wären alle betroffenen Decken, Wände und Fußböden „abgängig“.

Ich so: „Abgängig? Können Sie das bitte auf Nicht-Sachverständisch sagen?“

Er. „Naja, dann muss det alles rausjerissen werden, jetrocknet, desinfiziert. Alles. Bad, Decken, alles.“

Boom. Tolle Nachricht am Freitag mittag.

Ich so: „Und von welcher Reparatur-Dauer sprechen wir dann da?“

Er: „Vier bis sechs Monate.“

Ich sah mich schon nach Wohnungen im Internet suchen, natürlich vergeblich. Und Umzugskartons packen. Ich bin mit meiner Mikro-Familie acht Mal umgezogen, davon fünf Mal über Landes- beziehunsgweise Kontinentgrenzen. Nach dem schweren Erdbeben vom 19. September 2017 verließen wir in Mexiko-Stadt unsere Wohnung, weil wir nicht fünf, sechs Monate auf einer Baustelle leben wollten. Ich dachte: „Scheiße, das ist mein zweites Erdbeben hier, dieser verdammte Wasserschaden.“

Ich merke, mir fällt das Kurvekriegen sichtlich schwer.

Nach vier Tagen waren wir dann erleichtert, als der Wassersanierungs-Experte uns sagte, dass sich kein Schimmel gebildet hatte; best case also.

Also, um zum Anfang zurückzukommen. Ich wachte also regelmäßig nachts auf, und konnte dann erstmal ein, zwei Stunden nicht mehr einschlafen. Nachdem ich sowas in der Härte das erste und einzige Mal in meinem Leben 2012 erlebt hatte, weiß ich, dass man dann ruhig bleiben soll. Wenn man bis zum ersten Mal wie ein Biber geschlafen hat, ist man erstmal geschockt. Aber: 80% der Deutschen schlafen schlecht, 9% leider unter schweren Schlafstörungen, so eine Studie der DAK; Frauen etwas mehr (10%) als Männer (8%). Ist also an sich eine Volkskrankheit. Entsprechend viele Tipps lassen sich in der Literatur finden. Ich weiß mittlerweile: Wenn die rasenden Gedanken, die wie wilde Pferde durch Dein Hirn galoppieren, sich nach 10, 15 Minuten immer noch nicht einfangen lassen, dann einfach Licht an, Buch lesen. Und nach einer halben Stunde wieder versuchen einzuschlafen.

Hab‘ ich gemacht. Und so „Herkunft“ von Saša Stanišić gelesen. Sein dritter Roman ist ein stark autobiographisches Werk, das beschreibt, wie er 1992 als 14jähriger aus Jugoslawien nach Deutschland kommt. Er erzählt viel über seine Jugendjahre im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund – wo in den 70er Jahren die Neue Heimat eine „Großwohnsiedlung“ für 7000 Menschen hochzog. Ich habe in Heidelberg studiert, war aber nie im Emmertsgrund, was total typisch ist, weil sich die Studierenden von außerhalb damals – wie sicher auch heute – für Schloss und Karlsbrücke, nicht aber für Hochhaussiedlungen a la Mümmelmannsberg oder Gropiusstadt interessierten. Stanišić erzählt von seiner Großmutter väterlicher Seite, die in Višegrad (Bosnien) zurückgeblieben ist und fast dreißig Jahre später an schwerer Demenz leidet. Bestimmte Dinge, die seine Oma getan oder nicht getan hat, ändert Stanišić in seinem Roman einfach ab. Ist ja kein Sachbuch, sondern fiction. Er macht das so elegant, so kreativ, so witzig, so einfühlsam, dass ich erstmal nicht wusste, was ich lesen sollte, als ich die 360 Seiten durch hatte.

Für seinen dritten Roman “Herkunft” erhielt Saša Stanišić unter anderem den Deutschen Buchpreis 2019.

In diesen schlaflosen Stunden in Steglitz dachte ich: „So wie Saša Stanišić muss es man es machen. Einfach ein bisschen „spin doctor“ spielen an der eigenen Familiengeschichte. Ein bisschen den insta-Filter drüberlegen. Das Drehbuch für die amazon prime-Serie nochmal leicht redigieren.“ Stanišić hat zu Recht den Deutschen Buchpreis 2019 für „Herkunft“ erhalten und ist zu Recht – zumindest finde ich das – einer der ganz, ganz Großen der deutschen Gegenwartsliteratur. Und vielleicht haben für diesen Erfolg – neben dem herausragenden Talent des jugoslawischen „Jungen mit Migrationshintergrund“ – ein Lehrer einer Gesamtschule in Rohrbach und eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde in Heidelberg eine sehr entscheidende Rolle gespielt. Stanišić ist nicht nur ein Ausnahme-Talent, sondern hat auch eine Ausnahme-Integration hingelegt (der Mann kann anscheinend seitenweise Eichendorff aufsagen, und ist damit an literarischer Bildung mindestens 95% der Bundesbürger*innen inklusive mir überlegen). Er ist ein Beispiel für „upward mobility“, für die Chancengleichheit in unserem Land – er steht für Kinder mit „nicht-deutscher Herkunftssprache“, gleiches wünsche ich mir zudem für die aus bildungsfernen Haushalten.

(geschrieben am 12. März 2021)

Einigkeit und Recht und Freiheit

Nach mehr als 16 Jahren im Ausland bin ich diesen Sommer zurück nach Deutschland gezogen. Es ist eine Rückkehr in meine Heimat, aber auch in ein Land, das sich teilweise sehr verändert hat. Wobei das nicht singular für Deutschland zutrifft – kein Land der Welt sieht heute mehr so aus wie im Jahr 2002. Anhaltende Industrialisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Finanz- und Staatsschuldenkrise, Demokratisierungsbewegungen wie der Arabische Frühling, in einigen Ländern verheerende Kriege – all das hat seine Spuren mehr oder weniger stark in den USA, Brasilien, Ägypten, Russland oder China hinterlassen.

In der Zeit im Ausland – in Mexiko, den Niederlanden, Österreich und zuletzt wieder Mexiko – habe ich immer Kontakt zu Deutschland gehalten. Ich habe einigermassen versucht, die Nachrichtenlage nicht aus den Augen zu verlieren, war regelmässig hier. Aber das war nur zu Besuch, meist im Sommer, geprägt vom Austausch mit der Familie, Treffen mit Freunden, ein bisschen Sightseeing, damit die Kinder wenigstens mal den Hamburger Hafen und die Speicherstadt gesehen haben.

Wir haben die vergangenen Jahre in einem Land gelebt, in dem 44 Prozent der Bevölkerung arm sind; mehr als 53 Millionen Menschen. Diese Personen haben in der Regel weniger als 3000 Pesos im Monat zur Verfügung, das sind nicht mal 150 Euro. Sie leiden häufig an Hunger, leben in Hütten aus Holzlatten und Wellplastik, in den Kliniken in ihren Gegenden fehlen Ärzte und Medikamente, ihre Kinder gehen, wenn überhaupt, auf schlechte Schulen. Die lokale Mittelschicht – die, typisch für ein Schwellenland, deutlich kleiner ist als in Industriestaaten – erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen deutlichen Verlust ihres Realeinkommens. Nur den Reichen geht es immer besser; 16 Mexikaner zählt Forbes allein auf seiner Milliardären-Liste. Das Land leidet unter organisierter Kriminalität und Gewalt (Mordrate von rund 20 (im Vergleich: Deutschland 1, Brasilien 30)). Die Straflosigkeit liegt bei über 90 Prozent. Mexikaner sehen in der Regel die Polizei nicht als “Dein Freund und Helfer”, das Vertrauen in den Staat ist in den letzten Jahren nochmal wieder weiter abgesackt.

Dies ist mein persönlicher Erfahrungshintergrund. Und deswegen kann ich es nicht glauben, was gerade in Deutschland passiert. Genauer gesagt, in der deutschen Politik. Die Spitzen der Grossen Koalition – die Bundeskanzlerin, ihr Innenminister und Chef der Schwesterpartei CSU sowie die Vorsitzende der SPD-Fraktion – entscheiden sich dagegen, einen Verfassungsschutzpräsidenten, der in seiner Arbeit schweres Fehlverhalten an den Tag gelegt hat, vernünftig zu entlassen. Sie brauchen die Entrüstung in der breiten Öffentlichkeit, um zu merken, dass ihre Position gegen jedweden gesunden Menschenverstand verstösst. Damit zeigen Merkel, Seehofer und Nahles, wie weit sie sich von der Lebensrealität ihrer Bürger entfernt haben; leider nicht das erste Mal in den vergangenen Monaten.

Dies passiert in einem Umfeld, in dem in Chemnitz offen fremdenfeindliche Parolen geschrien wurden und die Rechtspartei AfD, bereits drittstärkste Kraft im Bundestag, nach aktuellen Umfragen sogar die ehemalige Volkspartei SPD hinter sich lassen würde. Daneben müssen so komplizierte Probleme wie langfristig sichere Renten, die Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt und fehlende Lehrkräfte und Pflegepersonal gelöst werden. ABER – trotz allem, geht es Deutschland und den Deutschen so gut. Man muss gar nicht bis nach Mexiko gucken, um das zu verstehen. Und Mexiko liegt entwicklungsmässig noch deutlich vor Bolivien, Ägypten oder Indonesien.

Die Regierung ist in einer der schwersten Krisen der deutschen Demokratie der Nachkriegszeit und versteht nicht, dass sie die nur gemeinsam angehen kann. Sicher, die Lage ist schwierig, aber das ist sie meistens. Angela Merkel sollte so mutig sein, Horst Seehofer in die Schranken zu weisen. Die CSU sollte verstehen, was gerade auf dem Spiel steht. Andrea Nahles sollte dafür sorgen, dass das Führungsteam der GroKo nicht den Reality Check vergisst. Ein Jahr nach der Bundestagswahl und nur sechs Monate nach Antritt der Regierung muss nach vorn geguckt und Verantwortung übernommen werden. Denn Neuwahlen sind sicher keine Alternative.